Selten hat sich “Toni the Race Face” einen wärmenden
Sonnenstrahl so sehnlichst herbeigewünscht, selten war es so schwer, Minute um
Minute tatenlos verstreichen zu lassen.
Aber seine Geduld
wird belohnt: der Himmel wird blau, die Sonne läßt die Wasserpfützen auf dem
Asphalt dampfend verdunsten. Endlich!
Toni dreht den
glühend heißen Zündschlüssel um und entlockt der Varadero den ersten
ohrenbetäubenden Krawallsound. Einzelne
Fensterscheiben platzen. Der Motor läuft warm. Die Muskeln spannen sich, der
Blick wird cool.
Ein letzter
Gedanke an die in vielen Nächten geheim geänderte Steuerung des Exup-Systems,
das dem Motorrad noch einige zusätzliche Pferde einhauchen soll.
Die Honda Varadero
tritt an. Start frei. Es gibt nur eine Richtung:
Pole-Position. Das Spiel beginnt.
Bis Nagold werden
die Reifen warm gefahren. Im zweiten Gang geht's übers Stoppschild rechts ab
auf die Zielgerade nach Freudenstadt. Toni ist kein Stoppschildbremser, kein
Weichei.
Jetzt
durchbeschleunigen bis kurz in den Fünften, bevor am Bremspunkt Grosse Enz (Fußgänger)
knapp 230 Sachen auf dem Tacho stehen. Jetzt
heißt's aber Kopf hoch und ordentlich in die Eisen. Hoppla, da wird das Heck der Honda aber ganz schön
leicht.
Die
10-Kolben-Nissin-Beißerchen packen brutal zu und verbeißen sich in die 330er
Pizzateller im Vorderrad, zwei Finger leicht am Bremshebel reichen aus, um die
Upside-down-Gabel heftig auf Tauchstation zu bringen. „Bißchen unterdämpfte
Gabel“, denkt “Toni the Race Face”, „aber
da kann ich mich jetzt nicht drum kümmern“.
Durch die Varadero-typische
sportlich-entspannte Sitzposition fühlt er sich sicher und kann sich langsam an
die Grenzen des Fahrwerks herantasten, um dann beim Herausbeschleunigen den
gleichmäßigen Schub des Zweizylinders zu genießen.
Toni verschmilzt
mit seinem Motorrad. Kraftvoll drückt sich die Varadero schon aus unteren
Drehzahlbereichen nach vorn und setzt jeden Millimeter am Gasgriff fast digital
in Schub um. Es geht brutal nach vorn, ab etwa 6500 Touren wird das
Leistungskonzert dann noch mal intensiver und, hoppla, da wird das Vorderrad
aber leicht.
“Toni the Race Face” verzichtet jetzt auf unnötige Wheelies, denn beim
Aufsetzen neigt die Varadero zu deutlichem Kickback am Lenker. Aber er weiß: für solch kleine Wehwehchen könnte
ein Lenkungsdämpfer die Lösung sein.
Freudenstadt wird
trotz Radarfalle hinter dem Ortsschild mit 180 durchfahren. “Toni the Race Face” ist kein
Ortsschildbremser und kein Radarfallenbremser, kein Weichei.
Er ärgert sich,
daß die Ampelanlage in Freudenstadt durch einen Kreisverkehr ersetzt wurde,
denn er ist kein Roteampelbremser.
Er könnte das
beweisen, wenn eine Ampel da wäre.
Toni blinkt nicht. Nur Weicheier blinken. Er ist kein
Kreisverkehrblinker.
Es geht Richtung Schramberg.
Toni drückt den
Knopf für die geheime elektronische Während-der-Fahrt-Verstellung der Sitzbank
um 10 cm nach hinten. Für die Eingewöhnung an die jetzt wesentlich
windschnittigere Sitzposition müssen die paar Kilometer bis Schramberg reichen.
Er hat keinen Blick für das große
Schild mit der Geschwindigkeitswarnung, an dem ein Motorradfahrer klebt.
Der Zweizylinder
drückt tierisch, aber die hervorragenden Reifen beruhigen Toni’s Nerven durch
ein glasklares Feedback und einen wunderschön fühlbaren Grenzbereich.
Es ist enorm, wie
die Honda Varadero aus den Ecken beschleunigt, ohne daß er dabei in irgendeiner
Weise die Kontrolle verliert. Gut, die (geheim vorgenommene) Rennabstimmung und
Änderung der Steuerung fordern ein deutliches Plus an Kondition, fahrerischem
Können und Konzentration, aber dafür ist der Spaßfaktor durch das
überwältigende Drehmoment, das der Zweizylinder schon im Drehzahlkeller ans
Hinterrad schaufelt, einfach riesig.
Die Kombination
von sattem Motorpunch und präzisem Fahrwerk vermittelt höchste Rennperformance.
Diese hardware überzeugt. 220, 240 ...
Blitz ... Radar .... Bulle ... Schei...!!!
“Toni the Race Face” nimmt sich eine Pause für einen kleinen Plausch
mit dem Polizisten. “Hier sind 70 erlaubt, und Sie sind gerade 240 gefahren,
Sportsfreund”, fängt der an rumzunölen.
„Wie soll ich denn
bei dem Tempo so'n kleines Schild erkennen können?“ kontert Toni, „get your
fucking voice out of my head!“
Der Polizist tut
so, als ob das für ihn ein überzeugendes Argument wäre.
Da er aber eher zu
den Manta-Mannis unter den Polizisten gehört und kein Englisch versteht, weiß
er in Wirklichkeit nicht, was er in den Strafzettel schreiben soll, weil er das
nicht schreiben kann. Diesen Fall kann er
nicht lösen.
Schramberg ist
erreicht, Bevölkerungs- und Verkehrsdichte nehmen zu. Durch
die elektronisch nach hinten verstellte Sitzbank und der stark nach vorn
gebeugten Haltung macht die langsame Fahrt im Stadtverkehr den Handgelenken
ordentlich zu schaffen, denn erst ab ca. 120 bringt der Fahrtwind Entlastung.
“Toni the Race Face” denkt an 240, sieht aber plötzlich am „Pick’s
Raus“ am Ende einer dick-schwarzen und 20 m langen Bremsspur eine alte 1000er
BMW parken: rot mit selbstgebauten Stützrädern, eingebrannten Schräglagen-Warnschildern
an der noch zischenden Krawalltüte und automatische Blinkerrückstellung – „Das
muß doch “Short Leg Joe’s“ Mopped
sein“, denkt “Toni the Race Face” und
dreht mit der digitalen rechten Gashand voll auf.
Eine Oma auf dem
Bürgersteig fällt vor Schreck in Ohnmacht, die Fensterscheiben vom „Pick’s
Raus“ zerplatzen, das Einkaufen ist vorbei. Hinter
dem schwarz verspiegelten Visier macht sich ein feistes Grinsen breit.
Plötzlich: da
vorne promenieren zwei Tussis mit superscharfem Minirock. In die Eisen, Mann! Toni reagiert blitzschnell und geht voll in die
Eisen (hartes Anbremsen kann der Varadero höchstens hin und wieder mal ein
leichtes Zucken im Vorderbau entlocken).
Er klappt das
schwarz verspiegelte Visier hoch.
Mit
runtergeklapptem Visier könnte man seinen coolen Blick nicht sehen. Er fährt ganz, gaaaanz langsam vorbei, seine linke Hand
liegt bei leicht auftippenden Fingern locker auf dem Oberschenkel. Diese Geste
bedeutet (im Zusammenspiel mit dem zielgerichteten coolen Blick) soviel wie:
“Dich merk' ich
mir, Mäuschen, aber ich hab' jetzt keine Zeit“.
Beide Tussis haben verstanden.
Die eine
schmachtet “Toni the Race Face” bewundernd
hinterher, die andere fängt an zu heulen.
Aber “Toni the Race Face” hat - wie
gesagt - keine Zeit.
Ortsausgang Waldkirch:
Er sticht in die Kurve, wobei ihn wieder einmal die absolute Zielgenauigkeit
seiner Honda Varadero verblüfft. Schräglagenwechsel?
Schikanen? Aber gerne! Herausbeschleunigen aus voller Kurvenfahrt? Mit
Vergnügen!
Die rote BMW kommt
ihm mit funkensprühenden Fußrasten und 35-Grad- Schräglage aus der nächsten
Kurve entgegengekachelt, dahinter liegen 2 Autos kopfüber in der Wiese.
Die Fahrerhaltung
entspricht ungefähr der eines in der nächsten Sekunde zum Sprung ansetzenden,
hungrigen Pumas: „Short Leg Joe“ fährt
ein bißchen spazieren. Ein lässiger Heizer -
Gruß (ein Knie berührt den Asphalt) reicht - man kennt sich. So long, Baby,
gib' Gummi!
“Toni the Race Face” nimmt den Schwung aus der letzten Kurve mit auf
die nächste Gerade, wo ein paar andere Big-Bikes und ein Yoghurtbecher sich an
seine Fersen heften, aber nicht an ihm vorbeikommen (bis auf eine).
“Was'n los, Ihr
Stützradfahrer?“ denkt Toni, „habt wohl vergessen, Euren choke wieder
reinzudrücken, wa? Har, har.” Und tatsächlich: weil sein (geheim abgestimmtes)
Fahrwerk mit einem Kurvenquerbeschleunigungswert von 1,1 g beim Bremsen keine
Zicken macht, liegt Toni noch geduckt hinter der Verkleidung, während seine
Verfolger (bis auf einen) schon mit tänzelndem Hinterrad auf die nächste Kurve
zusteuern.
Es bleibt
niemandem (außer einem) erspart, in den mächtigen Auspufftopf seiner Varadero
zu gucken. Aber Toni ist nicht zufrieden. Er
will immer alles oder nichts. Er ist kein Weichei.
Wer zum Teufel war
dieser Mistkerl, dieser eine, der sich mit der linken Hand eine Zigarette
drehte, während er Toni mit demonstrativer Lässigkeit überholte und ihm das
Gefühl gab, im dritten Gang zu fahren?
Ihm blieb keine
Zeit zum gucken, denn alles ging viel zu schnell.
Der Ofen war nur
Schwarz und Chromblitzend.
Toni denkt scharf
nach: „Das kann nur eine BMW Cruiser gewesen sein! Die tauchen immer auf wie
aus dem Nichts”.
Der Heimweg
verläuft etwas gelassener, weil Toni die ersten Sofortmaßmahmen nach der Fahrt
gedanklich durchspielt:
“Was spuckt das 2D
Data-Recording aus?“ ... “Ich muß sofort zur Leistungsmessung auf den
Dynojet-Prüfstand” ...
“Was war das da an
der Grossen Enz? Ach ja, Gabel ist etwas unterdämpft” ... „Lenkungsdämpfer” ... Auch die nächsten Nächte in der geheimen Werkstatt
werden gedanklich durchgeplant, und Toni setzt Prioritäten:
Alle Hochzeiten,
Geburtstage und Beerdigungen müssen bis auf weiteres abgesagt werden ... nur
ein Gedanke bohrt sich immer wieder wie ein weißglühender Eisenkeil durch sein
Gehirn, und er weiß, daß es immer ein Geheimnis bleiben wird:
Wer war bloß
dieser Kerl mit der BMW Cruiser?
“Toni the Race Face” fährt heim,
der am Horizont
rotglühend untergehenden Sonne entgegen.
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